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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
176 Seiten
Deutsch
Hanser, Carl GmbH + Co.erschienen am25.01.20211. Auflage
Monika Helfer schreibt fort, was sie mit ihrem Bestseller 'Die Bagage' begonnen hat: ihre eigene Familiengeschichte. Auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2021
Ein Mann mit Beinprothese, ein Abwesender, ein Witwer, ein Pensionär, ein Literaturliebhaber. Monika Helfer umkreist das Leben ihres Vaters und erzählt von ihrer eigenen Kindheit und Jugend. Von dem vielen Platz und der Bibliothek im Kriegsopfer-Erholungsheim in den Bergen, von der Armut und den beengten Lebensverhältnissen. Von dem, was sie weiß über ihren Vater, was sie über ihn in Erfahrung bringen kann. Mit großer Wahrhaftigkeit entsteht ein Roman über das Aufwachsen in schwierigen Verhältnissen, eine Suche nach der eigenen Herkunft. Ein Erinnerungsbuch, das sanft von Existenziellem berichtet und schmerzhaft im Erinnern bleibt. 'Ja, alles ist gut geworden. Auf eine bösartige Weise ist alles gut geworden.'

Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt als Schriftstellerin mit ihrer Familie in Vorarlberg. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht. Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Robert-Musil-Stipendium, dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, dem Solothurner Literaturpreis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis ausgezeichnet. Mit ihrem Roman Schau mich an, wenn ich mit dir rede (2017) war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Für Die Bagage (Roman, 2020) erhielt sie den Schubart-Literaturpreis 2021 der Stadt Aalen. Zuletzt erschienen von ihr bei Hanser die Romane Vati (2021), mit dem sie erneut für den Deutschen Buchpreis nominiert war, und Löwenherz (2022).
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
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TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR11,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR13,00
HörbuchCompact Disc
EUR20,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR10,99

Produkt

KlappentextMonika Helfer schreibt fort, was sie mit ihrem Bestseller 'Die Bagage' begonnen hat: ihre eigene Familiengeschichte. Auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2021
Ein Mann mit Beinprothese, ein Abwesender, ein Witwer, ein Pensionär, ein Literaturliebhaber. Monika Helfer umkreist das Leben ihres Vaters und erzählt von ihrer eigenen Kindheit und Jugend. Von dem vielen Platz und der Bibliothek im Kriegsopfer-Erholungsheim in den Bergen, von der Armut und den beengten Lebensverhältnissen. Von dem, was sie weiß über ihren Vater, was sie über ihn in Erfahrung bringen kann. Mit großer Wahrhaftigkeit entsteht ein Roman über das Aufwachsen in schwierigen Verhältnissen, eine Suche nach der eigenen Herkunft. Ein Erinnerungsbuch, das sanft von Existenziellem berichtet und schmerzhaft im Erinnern bleibt. 'Ja, alles ist gut geworden. Auf eine bösartige Weise ist alles gut geworden.'

Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt als Schriftstellerin mit ihrer Familie in Vorarlberg. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht. Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Robert-Musil-Stipendium, dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, dem Solothurner Literaturpreis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis ausgezeichnet. Mit ihrem Roman Schau mich an, wenn ich mit dir rede (2017) war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Für Die Bagage (Roman, 2020) erhielt sie den Schubart-Literaturpreis 2021 der Stadt Aalen. Zuletzt erschienen von ihr bei Hanser die Romane Vati (2021), mit dem sie erneut für den Deutschen Buchpreis nominiert war, und Löwenherz (2022).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783446269903
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum25.01.2021
Auflage1. Auflage
Seiten176 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.5422768
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Es war ein Wintertag. Als wir das Schulgebäude verließen, schien noch die Sonne, bittere Kälte, keine Wolke. So viel Schnee lag, dass der Weg über den Berg hinauf wie ein in den Boden gefräster Kanal war, rechts und links Schneemauern. Jeder Ton wurde gedämpft. Manchmal sahen wir Raben über den Himmelstreifen fliegen. Gretel trödelte wieder, zog die Handschuhe aus, grub mit den Fingern Rillen in die glatte Schneewand. Dann kam ein Wind auf.

Ich sagte: »Das ist der scheinheilige Wind.«

Das war eine Wendung, die hatten wir erfunden. Scheinheilig, weil er sich sanft stellte, ein bisschen warm sogar, als wäre er ein Föhn, wo doch der Föhn selbst schon scheinheilig war und so tat, als wäre Frühling. Aber dieser scheinheilige Wind war kein Föhn. Er verlockte zu Unsinn.

Unser Unsinn war, dass wir vom Weg ab wollten, das heißt, ich wollte. Ich wollte, dass wir uns das letzte Stück, das steilste, durch den Tiefschnee kämpfen.

»Der ist ja höher als wir!«, protestierte Gretel.

Ich meinte, das sei ja gerade das Lustige daran. Dass wir einen Tunnel graben, einen Geheimgang, über uns und auf den Seiten nur Schnee, glitzernder, leuchtender Schnee, weil über dem Tunnel die Sonne schien, dabei schien sie gar nicht mehr. Da wolle sie nicht mittun, sagte Gretel. Ich sagte, dann eben nicht, geh ich eben allein. Weil ich mich darauf verlassen konnte, dass sie dann doch mittun wird.

Als wir schon ziemlich weit waren - es war auch gar nicht mühsam, der Schnee war leicht wie eine Federdecke und am Steilhang auch nicht so tief -, verdunkelte sich der Himmel, und sehr schnell verwandelte sich der scheinheilige Wind in einen Sturm. Wir gruben schneller, ich voran, es waren ja nur wenige Meter noch, bis wir die nächste Kehre erreichen würden, zurück wollten wir nicht. Der Sturm wirbelte den Schnee auf, und zugleich hatte es begonnen zu schneien.

Gretel hinter mir weinte. Ich rutschte aus und fiel auf die Knie, der Boden unter dem Schnee war hart gefroren. Meine Wollstrümpfe hatten ein Loch, ich blutete, der Schnee stopfte sich in die Strümpfe und in die Schuhe hinein. Unsere Köpfe waren bald unter dem Schnee, bald brach die Decke, und der Schnee fiel uns in den Nacken. Ein Baum krachte um. Dann ein zweiter, nicht weit von uns. Es knarrte und ächzte, als würden alte Männer aufbegehren. Wenn, dann riesige alte Männer.

Gretel betete. Wir erreichten den Weg, aber beim Bildstöckchen fiel ich wieder hin, und diesmal tat es wirklich sehr weh, etwas war mit dem Knöchel, ich konnte nicht mehr auftreten. Gretel schleifte mich neben sich her, ich legte meinen Arm um sie.

»Hör mit dem Heulen auf!«, sagte ich. Das sagte ich, damit ich nicht damit anfinge. Mein Gesicht war rotzverschmiert, unsere Haare nass, ich spürte die Beine nicht mehr vor Kälte, Schneewasser rann mir über den Rücken hinunter. Ich machte mir Wasser in die Unterhose, was mich wunderte, denn so viel Angst hatte ich selbst nicht erwartet.

»Hilfe!«, rief Gretel.

»Hilfe!«, schrien wir. »Hilfe!«

Wir hörten ein Auto. Menschen lasen uns auf. Sie zogen meine Schuhe ab, um zu sehen, was mit meinem Knöchel sei. Sie hatten Wollsocken bei sich. Die waren so groß, dass die Ferse bis über meine Waden reichte.

Zu Hause wollte niemand unsere Geschichte hören. Das war nämlich der Tag, an dem Wichtigeres erfahren worden war. Unsere Mutter trug eine dunkle Sonnenbrille â¦

Chaos am Computerbildschirm.

Ich hatte mir einen Ordner angelegt mit der Überschrift: Mutti.

Dann alle Dokumente dort eingefügt.

Es ergab sich, dass ich zwei gleiche Dokumente hatte. Aus Vergesslichkeit habe ich sie gleich benannt.

Der Computer fragte mich: Willst du eines ersetzen?

Ich drückte auf: Ja.

Und da war das richtige weg.

So, dachte ich mir, ist es, wenn ich über unsere Mutti erzählen will. Sie ist wie ein flüchtiger Vogel. Kaum ist sie da, schon ist sie wieder weg.

Ich sehe sie am Küchenfenster stehen, ihre Hand liegt auf dem Sims, nahe daneben hüpft eine Tannenmeise von Korn zu Korn, die kleinste von dieser Sorte, sie pickt unserer Mutti aus der Hand, die Amsel pickt ihr auch aus der Hand, nur nicht der Spatz, der steht und schaut. Sie zieht die Hand zurück, dann nimmt er sich, was auf dem Sims liegt, und zappelt dabei.

Ich frage: »Fütterst du heute wieder die Rehe? Darf ich heute einmal mit? Mir laufen sie immer davon. Du kannst ihnen sagen, dass ich zu dir gehöre.«

»Morgen früh«, sagt sie, »für heute ist es zu spät.«

Ich gehe in den Keller und hole einen Krautkopf, schäle ihn ab und schneide die Blätter in Streifen.

»Das ist dann für die Rehe«, sage ich. »Darf ich morgen mit?«

»Ich überlege es mir«, sagt meine Mutter.

»Bitte, sag Ja«, sage ich.

Das Wichtigere, was an diesem Tag erfahren worden war: Unsere Mutter hatte Krebs.

Die Zeit verdunkelte sich, Mutti lag bald im Krankenhaus, und wir ahnten, dass sie nie mehr gesund werden würde. Wir ahnten es, weil sich alles veränderte. Als unser Vater im Krankenhaus gewesen war, hatte sich nicht alles verändert. Und bald wohnten wir auch nicht mehr im Kriegsopfererholungsheim. Einmal wurden wir hierhin gebracht, dann dorthin, fremde Gesichter, fremde Betten. Kein Richard, keine Renate. Nur Gretel und ich. Richard war bei Tante Irma. Aber wo war Renate? Was wirklich war, sagte uns niemand. Was mit unserem Vater war, daran erinnere ich mich nicht. Auf den Bildern in meinem Kopf fehlt er. Er sei immer im Krankenhaus gewesen, erzählt mir Gretel. Weil im Krankenhaus so wenig los gewesen sei, habe man unsere Mutti in ein Einzelzimmer verlegt und ein Bett für unseren Vater dazugeschoben. Nicht, weil sie prominent waren, um Himmels willen, das waren sie nicht. Sondern wegen der einmaligen Not dieses Mannes.

»Sind das deine Worte?«, frage ich.

»Nein«, sagt Gretel. »Man hat das so gesagt. Man hat mir erzählt, dass man es so gesagt hat.«

»Einmalige Not dieses Mannes?«

»Genau so.«

»Weißt du das hundertprozentig?«, frage ich.

»Was heißt schon hundertprozentig bei einer Erinnerung«, sagt sie.

»Vielleicht willst du nur, dass es so gewesen ist«, sage ich.

»Ich erfinde solche Worte nicht«, sagt sie. »Solche Worte erfindest du.«

»Wenn es wirklich so war â¦«, sage ich.

»Wie soll es denn anders gewesen sein!«, empört sie sich. Als würde ich das Gegenteil behaupten. Das Gegenteil könnte doch nur weniger Liebe zwischen unseren Eltern sein, als tatsächlich war.

»Ich weiß es nicht«, sage ich.

Aus mit dem Paradies! Wir Kinder wurden aufgeteilt. Richard kam zu Tante Irma. Die hatte inzwischen einen Schatz. Den sie gleich, nach einem Monat bereits, heiratete. Ein mächtiger Mann. Ein Koloss. Wir hörten ihn ankommen, da dauerte es noch gut zwei Minuten, bis er das Haus betrat, so laut war seine Stimme. Sie dröhnte draußen in der Natur. Wie die Stimme vom Erzengel Michael mit dem Schwert. Ein blinder Koloss. Von nun an: unser Onkel Pirmin. Der Blinde. Aber nicht durch den Krieg blind. Der sich als Masseur ausbilden ließ und eine eigene Methode entwickelte, mit der er die hoffnungslosen Fälle wieder auf die Beine stellte - einer würde in ferner Zukunft mein Mann sein. Als er den Speisesaal betrat, schlug er sich am Türbalken den Schädel an. Ein riesiger Schädel. Das ganze Haus dröhnte und knackste. Der blinde Samson, der den Palast zum Einsturz bringt.

Er sagte, das war sein Standardsatz: »Es ist völlig in Ordnung, dass mir der Herrgott das Augenlicht genommen hat. Er hat mir ja sonst von allem zu viel gegeben.«

Zu denen kam unser Bruder Richard. Das war eh klar. Tante Irma hatte eh immer so getan, als gehöre er ihr.

Und die kleine Renate und Gretel und ich? Uns nahm Tante Kathe auf. Wir kamen nach Bregenz. In die Südtirolersiedlung. In die Dreizimmerwohnung, wo bereits fünf Personen lebten.

»Bis eure Mutter wieder gesund ist«, sagte Tante Kathe. Sie bemühte sich nicht einmal, selbst daran zu glauben.

Es war dieses Gefühl, als ob man mich bei etwas Unrechtem erwischt hätte. Dabei war unsere Mutti gestorben, und ich stand am Grab und dachte mir, wenn mich bloß niemand sieht, wusste aber, dass meine Schulklasse sich irgendwo vor den Büschen in der Nähe der Friedhofsmauer aufgestellt hatte. Ich war die Neue, und gleich schon stirbt ihr die Mutter. Das Begräbnis war mir peinlich. Wir waren den anderen lästig und ein bisschen unheimlich. Jetzt mussten sie auch noch auf den Friedhof kommen, Befehl vom Lehrer. Ich stand dicht neben Gretel, die den Mund nach unten zog und schniefte. Vor uns zwischen uns...
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