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Der Schneesturm

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Hoffmann und Campe Verlagerschienen am16.09.2010
Zum 100. Todestag Lew Tolstojs am 20. November 2010 In seinen letzten Lebensjahren war er der berühmteste Schriftsteller seiner Zeit, galt als Gigant der Literatur wie des ethischen Denkens. Die hier versammelten Erzählungen kreisen um seine großen Themen: um den Menschen, um Leben und Tod.

Lew Tolstoj, 1828 auf dem Familiengut Jasnaja Poljana bei Tula geboren, entstammte einem russischen Adelsgeschlecht. 1862 heiratete er die deutschstämmige Sofja Andrejewna Behrs, mit der er 13 Kinder hatte. Die Romane Krieg und Frieden und Anna Karenina begründeten seinen literarischen Weltruhm. Vor seinem Tod 1910 galt er als der berühmteste Schriftsteller seiner Zeit. Der Herausgeber: Thomas Grob ist Professor für Slavische Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Zahlreiche Arbeiten zur russischen Literatur sowie publizistische Beiträge. Herausgeber des erzählerischen Werks von Iwan Bunin in deutscher Übersetzung. Bei Hoffmann und Campe gab er heraus: Anton P. Tschechow, Eine Bagatelle. Erzählungen von Liebe, Glück und Geld (2009).
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Produkt

KlappentextZum 100. Todestag Lew Tolstojs am 20. November 2010 In seinen letzten Lebensjahren war er der berühmteste Schriftsteller seiner Zeit, galt als Gigant der Literatur wie des ethischen Denkens. Die hier versammelten Erzählungen kreisen um seine großen Themen: um den Menschen, um Leben und Tod.

Lew Tolstoj, 1828 auf dem Familiengut Jasnaja Poljana bei Tula geboren, entstammte einem russischen Adelsgeschlecht. 1862 heiratete er die deutschstämmige Sofja Andrejewna Behrs, mit der er 13 Kinder hatte. Die Romane Krieg und Frieden und Anna Karenina begründeten seinen literarischen Weltruhm. Vor seinem Tod 1910 galt er als der berühmteste Schriftsteller seiner Zeit. Der Herausgeber: Thomas Grob ist Professor für Slavische Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Zahlreiche Arbeiten zur russischen Literatur sowie publizistische Beiträge. Herausgeber des erzählerischen Werks von Iwan Bunin in deutscher Übersetzung. Bei Hoffmann und Campe gab er heraus: Anton P. Tschechow, Eine Bagatelle. Erzählungen von Liebe, Glück und Geld (2009).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783455307221
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2010
Erscheinungsdatum16.09.2010
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1438141
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

• DER SCHNEESTURM •

I

 

Gegen sieben Uhr abends verließ ich, nachdem ich Tee getrunken hatte, die Poststation, deren Name mir entfallen ist; ich weiß nur, daß es im Gebiet der Donkosaken, irgendwo in der Nähe von Nowotscherkask war. Als ich mich, in Pelz und Wagendecke gehüllt, neben Aljoschka in den Schlitten setzte, war es schon dunkel. Hinter dem Stationsgebäude schien es warm und windstill. Obwohl es nicht schneite, war oben kein einziger Stern zu sehen, und der Himmel erschien im Vergleich zu der weißen Schneefläche, die vor uns lag, ungewöhnlich tief und schwarz.

Als wir die Silhouetten der Windmühlen, von denen die eine unbeholfen ihre großen Flügel bewegte, und das Dorf hinter uns hatten, bemerkte ich, daß der Weg beschwerlicher und schneereicher wurde; der Wind begann mir heftiger in die linke Seite zu blasen, die Mähnen und die Schweife der Pferde auf die Seite zu wehen und den von den Kufen und Hufen aufgewühlten Schnee trotzig emporzuwirbeln und davonzutragen. Das Schellengeläute klang leiser, ein kalter Luftstrom drang mir durch irgendeine Öffnung im Ärmel in den Rücken, und ich mußte an den Rat des Stationsaufsehers denken, von der Reise Abstand zu nehmen, um nicht die ganze Nacht ohne Weg umherzuirren und vielleicht noch zu erfrieren.

»Daß wir uns nur nicht verirren«, sagte ich zum Fuhrknecht. Da er mir aber keine Antwort gab, stellte ich meine Frage deutlicher: »Werden wir die Station erreichen, Kutscher? Werden wir uns nicht verirren?«

»Gott weiß«, gab er mir zur Antwort, ohne den Kopf zu wenden. »Sie sehen ja selbst, was für ein Gestöber aufsteigt: vom Weg ist nichts zu sehen. Herrgott!«

»Sag mir doch lieber, ob du mich zur nächsten Station zu bringen hoffst oder nicht«, fragte ich weiter. »Werden wir hinkommen?«

»Wir werden wohl hinkommen müssen«, sagte der Fuhrknecht; er sprach noch weiter, ich konnte ihn aber im Wind nicht verstehen.

Ich hatte keine Lust, umzukehren; doch auch die Aussicht, die ganze Nacht bei Frost und Schneesturm in diesem Teil des Donkosaken-Gebiets, einer völlig nackten Steppe, umherzuirren, schien mir wenig verlockend. Außerdem gefiel mir mein Kutscher nicht recht, obwohl ich ihn im Finstern nicht genau sehen konnte, und ich hatte kein Vertrauen zu ihm. Er saß genau in der Mitte des Bokkes und nicht seitwärts, wie Kutscher sonst zu sitzen pflegen; er war von übermäßigem Wuchs, seine Stimme klang träge, und auf dem Kopf hatte er keine richtige Kutschermütze, sondern eine ihm viel zu große, die immer hin und her rutschte; auch kutschierte er nicht auf die richtige Art: er hielt die Zügel mit beiden Händen, wie ein Lakai, der aushilfsweise die Stelle des Kutschers vertritt; doch der Hauptgrund meines Mißtrauens war, daß er sich ein Tuch um die Ohren gebunden hatte. Mit einem Wort, der ernste gekrümmte Rücken, der vor mir in die Höhe ragte, wollte mir nicht gefallen und verhieß mir nichts Gutes.

»Ich bin dafür, daß wir umkehren«, sagte Aljoschka, »es ist gar nicht so lustig, sich in der Steppe zu verirren!«

»Gott im Himmel! Dieses Schneegestöber! Ich kann den Weg nicht sehen, der Schnee hat mir die Augen verklebt ... Gott im Himmel!« brummte der Fuhrknecht.

»Was gibt's? Wo gehst du hin? Haben wir etwa den Weg verloren?« fragte ich; der Fuhrknecht gab mir aber keine Antwort: er hielt den Kopf vom Wind, der ihm die Augen peitschte, weggewandt und entfernte sich vom Schlitten.

»Nun? Hast du den Weg gefunden?« fragte ich, als er zurückgekehrt war.

»Nein, nichts«, sagte er unwirsch und ärgerlich, als ob ich schuld daran wäre, daß er den Weg verloren hatte; er steckte die Beine wieder langsam in den Vorderteil des Schlittens und ergriff mit seinen hartgefrorenen Handschuhen die Zügel.

»Was werden wir nun tun?« fragte ich, als sich der Schlitten wieder in Bewegung gesetzt hatte.

»Was sollen wir tun! Wir werden aufs Geratewohl weiterfahren.«

Nun fuhren wir im kurzen Trab weiter, offenbar ganz ohne Weg, bald über tiefen Pulverschnee, in dem der Schlitten zu einem Viertel versank, bald über eine spröde nackte Eisfläche.

Obwohl es recht kalt war, schmolz der Schnee auf meinem Mantelkragen sehr rasch; das Gestöber über der Erde wurde immer stärker, und von oben begann es einzelne trockene Flocken zu schneien.

Es war klar, daß wir Gott weiß wohin fuhren, denn als wir auch noch eine weitere Viertelstunde gefahren waren, hatten wir keinen einzigen Werstpfahl gesehen.

»Nun, was glaubst du«, fragte ich wieder den Kutscher, »werden wir die Station erreichen?«

»Welche Station? Zurück werden wir wohl kommen können, wenn wir die Pferde frei laufen lassen: sie werden uns schon zurückbringen; doch auf die nächste Station werden wir kaum kommen ... Wir werden dafür höchstens den Tod finden.«

»Wir wollen dann doch lieber umkehren«, sagte ich. »Was sollen wir auch riskieren ...«

»Soll ich umkehren?« wiederholte der Kutscher. »Ja, gewiß, kehre nur um.«

Der Kutscher ließ die Zügel los. Die Pferde begannen schneller zu laufen. Obwohl ich gar nicht gesehen hatte, wie wir umgekehrt waren, merkte ich doch, daß der Wind auf einmal von der andern Seite blies; bald konnte ich schon durch das Schneegestöber hindurch die Windmühlen erkennen. Der Kutscher faßte neuen Mut und wurde gesprächig.

»Neulich fuhren sie mit Retourschlitten von der anderen Station in so einem Schneesturm heim; sie mußten in Heuschobern übernachten und kamen erst am Morgen nach Hause. Es war noch ein Glück, daß sie auf die Heuschober stießen, denn sonst wären sie wohl erfroren - der Frost war stark. Der eine hat sich auch wirklich die Beine erfroren; nach drei Wochen ist er daran gestorben.«

»Jetzt ist es aber gar nicht so kalt, auch der Sturm hat sich etwas gelegt«, sagte ich. »Können wir vielleicht doch weiterfahren?«

»Warm ist's schon, doch der Schneesturm! Weil wir jetzt zurückfahren, scheint's uns nicht so arg; es stürmt aber ordentlich! Ich würde schon weiterfahren, wenn ich einen Kurier zu fahren hätte oder auf eigene Gefahr ... So kann mir aber der Fahrgast erfrieren, und das ist beileibe kein Spaß! Wie kann ich für Euer Gnaden die Verantwortung tragen?«

 

 

II

 

In diesem Augenblick erklang hinter uns das Schellengeläute mehrerer Troikas, die uns rasch einholten.

»Es ist die Glocke der Kuriertroika«, sagte mein Kutscher, »es gibt auf der ganzen Station nur ein solches Geläute.«

Das Geläute der vorderen Troika, das im Wind deutlich vernehmbar war, klang wirklich außerordentlich schön: es war ein reiner, tiefer, etwas klirrender Ton. Wie ich später erfuhr, war dieses Geläute eine besondere Liebhaberei des Posthalters: es waren im ganzen drei Glocken - die größte in der Mitte mit dem sogenannten tiefroten Ton und zwei kleinere, die auf eine Terz abgestimmt waren. Der Klang dieser Terz und der klirrenden Quinte klang in der wüsten, leeren Steppe wunderbar schön.

»Es ist die Post«, sagte mein Kutscher, als uns die erste der drei Troikas eingeholt hatte. »Wie ist der Weg? Kann man fahren?« rief er dem Fuhrknecht in der letzten Troika zu; jener schrie aber nur auf seine Pferde ein und gab meinem Kutscher keine Antwort.

Kaum hatte uns die Post überholt, als auch das Schellengeläute schnell im Wind verhallte.

Mein Kutscher schämte sich wohl ein wenig.

»Wollen wir doch weiterfahren, Herr!« sagte er. »Die Leute sind eben vorbeigefahren, und ihre Spur ist noch frisch.«

Ich stimmte zu; wir wendeten wieder gegen den Wind und schleppten uns durch den tiefen Schnee weiter. Ich blickte immer von der Seite auf den Weg, um die Spuren der Troika nicht zu verlieren. Etwa zwei Werst waren die Spuren gut sichtbar; dann konnte ich nur noch eine leichte Unebenheit unter den Kufen wahrnehmen; schließlich konnte ich nicht mehr unterscheiden, ob ich die Spur oder eine vom Wind aufgewühlte Schneefurche vor mir hatte. Die Augen wurden bald so müde, daß sie die unaufhörlich unter den Kufen dahingleitende Schneefläche nicht weiter verfolgen konnten, und ich begann geradeaus zu schauen. Den dritten Werstpfahl sahen wir noch, doch den vierten konnten wir unmöglich finden; wir fuhren, wie wir es schon vorher getan hatten, bald mit dem Wind, bald gegen den Wind, bald nach rechts, bald nach links und waren schließlich so weit, daß der Kutscher behauptete, wir seien vom richtigen Weg nach rechts abgeschweift, ich erklärte, nach links, und Aljoschka meinte, daß wir überhaupt zurückführen. Wieder blieben wir einigemal stehen, der Kutscher streckte seine langen Beine aus dem Schlitten und machte sich auf die Suche nach dem Weg; doch alles war umsonst. Ich stieg auch einmal aus, um festzustellen, ob dort, wo es mir schien, nicht doch der Weg liege; aber kaum war ich mit großer Mühe etwa sechs Schritt gegen den Wind gegangen und hatte mich überzeugt, daß überall die gleiche eintönige weiße Schneedecke lag und daß der Weg nur in meiner Einbildung existierte, als ich plötzlich den Schlitten aus den Augen verlor. Ich schrie: »Kutscher! Aljoschka!«, doch ich fühlte, wie mir der Wind meine Stimme direkt vom Munde wegriss und sie in einem Augenblick weit von mir davontrug. Ich ging zu der Stelle, wo eben noch der Schlitten gestanden hatte, doch der Schlitten stand nicht mehr da; ich ging nach rechts und fand ihn wieder nicht. Ich schäme mich noch heute, wenn ich daran denke, wie durchdringend, laut, beinahe verzweifelt ich dann geschrien habe: »Kutscher!«, während er zwei Schritt vor mir stand. Seine dunkle Gestalt mit der Peitsche in der Hand und der auf die Seite gerutschten großen...

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Autor

Lew Tolstoj, 1828 auf dem Familiengut Jasnaja Poljana bei Tula geboren, entstammte einem russischen Adelsgeschlecht. 1862 heiratete er die deutschstämmige Sofja Andrejewna Behrs, mit der er 13 Kinder hatte. Die Romane Krieg und Frieden und Anna Karenina begründeten seinen literarischen Weltruhm. Vor seinem Tod 1910 galt er als der berühmteste Schriftsteller seiner Zeit.
Der Herausgeber:
Thomas Grob ist Professor für Slavische Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Zahlreiche Arbeiten zur russischen Literatur sowie publizistische Beiträge. Herausgeber des erzählerischen Werks von Iwan Bunin in deutscher Übersetzung. Bei Hoffmann und Campe gab er heraus: Anton P. Tschechow, Eine Bagatelle. Erzählungen von Liebe, Glück und Geld (2009).