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An den Rändern Europas

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
288 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am15.03.2021
Vom Zerfall und Aufbruch unseres Kontinents
Wie hat sich Europa in den letzten Jahrzehnten verändert, wenn wir es von seinen Rändern her betrachten? Achim Engelberg bereist seit vielen Jahren Europas Außengrenzen von Island bis Sizilien, von Spanien bis zum Balkan. Nach dem Kalten Krieg wurde es dort gefährlicher. Die 1990er Jahre waren geprägt von der Rückkehr des Krieges, von den ökonomischen Schockwellen, die Osteuropa erfassten und Westeuropa unsozialer machten. Die vielen Flüchtlinge aus zerfallenden Staaten des Ostens und vom Balkan verstörten, das Sterben im Mittelmeer begann. Es war 1989 nicht das Ende der Geschichte erreicht, wie viele geglaubt hatten, vielmehr brachen Ungewissheit und Unsicherheit über das stolze und saturierte Europa herein. Findet unser Kontinent erneut die Kraft, sich wie Phoenix aus der Asche zu erheben?

Achim Engelberg, geboren 1965, schreibt u.a. für die Neue Zürcher Zeitung, die Blätter für deutsche und internationale Politik und Sinn und Form. Er ist Gründungskurator bei piqd. Als Historiker publiziert er Sachbücher und wertet den in der Berliner Staatsbibliothek vorliegenden Nachlass seines Vaters aus. Bei Siedler erschienen »Die Bismarcks. Eine preußische Familiensaga vom Mittelalter bis heute« (2010, zusammen mit Ernst Engelberg) und die von ihm herausgegebene Neuedition von Ernst Engelbergs »Bismarck. Sturm über Europa« (2014).
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Produkt

KlappentextVom Zerfall und Aufbruch unseres Kontinents
Wie hat sich Europa in den letzten Jahrzehnten verändert, wenn wir es von seinen Rändern her betrachten? Achim Engelberg bereist seit vielen Jahren Europas Außengrenzen von Island bis Sizilien, von Spanien bis zum Balkan. Nach dem Kalten Krieg wurde es dort gefährlicher. Die 1990er Jahre waren geprägt von der Rückkehr des Krieges, von den ökonomischen Schockwellen, die Osteuropa erfassten und Westeuropa unsozialer machten. Die vielen Flüchtlinge aus zerfallenden Staaten des Ostens und vom Balkan verstörten, das Sterben im Mittelmeer begann. Es war 1989 nicht das Ende der Geschichte erreicht, wie viele geglaubt hatten, vielmehr brachen Ungewissheit und Unsicherheit über das stolze und saturierte Europa herein. Findet unser Kontinent erneut die Kraft, sich wie Phoenix aus der Asche zu erheben?

Achim Engelberg, geboren 1965, schreibt u.a. für die Neue Zürcher Zeitung, die Blätter für deutsche und internationale Politik und Sinn und Form. Er ist Gründungskurator bei piqd. Als Historiker publiziert er Sachbücher und wertet den in der Berliner Staatsbibliothek vorliegenden Nachlass seines Vaters aus. Bei Siedler erschienen »Die Bismarcks. Eine preußische Familiensaga vom Mittelalter bis heute« (2010, zusammen mit Ernst Engelberg) und die von ihm herausgegebene Neuedition von Ernst Engelbergs »Bismarck. Sturm über Europa« (2014).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641156527
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum15.03.2021
Seiten288 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.5142612
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Was gibt es Neues im Osten?

In Terrassen türmt sich die große Stadt am Dnjepr auf, die alles Unglück überlebt hat.

Ossip Mandelstam, 1926

Wo Europa endet, beginnen die Ströme. Wer nach Kiew fährt und den Dnjepr sieht, dem erscheinen mitteleuropäische Flüsse wie Rinnsale. So eindrucksvoll die Donau in Budapest auch ist, zu einem Strom wird sie erst beim Zusammenfluss mit der Save in Belgrad. Wo Europa im Meer versinkt, im Grenzgebiet zwischen Rumänien und der Ukraine, liegt dann die mythische Flusslandschaft des Donau-Deltas.

Kiew ist eine eindrucksvolle Stadt mit einem markanten Hauptbahnhof. Vom Zentrum kommend sehe ich zuerst das torartige, geschwungene und dennoch eckige Eingangsportal, dann die beiden lang gestreckten Seitenflügel mit jeweils vier hohen Fenstern in einer Fassade von der umwerfenden Schlichtheit des frühen sowjetischen Konstruktivismus. Der Bau entstand, als Majakowski dichtete: »Her mit dem schönen Leben!«

Es ist kurz vor sechs Uhr morgens. Die Stadt erwacht, rekelt sich. Wenige Passanten sind schon auf den Beinen. Als ich das Empfangsgebäude erreiche, wimmelt es auf einmal von Leuten. Die erste U-Bahn spuckt Reisende aus, die mit Koffern, Taschen, Rucksäcken in die Bahnhofshalle eilen, andere strömen aus dem gerade eingefahrenen Nachtzug. Paare verabschieden oder begrüßen sich. Küsse, Umarmungen. Einige Männer in Uniform kommen allein, andere werden von ihren Frauen und Mädchen verabschiedet. Es geht an die Front.

Ich bin verabredet mit einem Mitarbeiter von der Diakonie Katastrophenhilfe und zwei lokalen Helfern aus der Ukraine. Im Gewimmel der Reisenden greife ich zu meinem Handy, aber ich komme nicht mehr zum Anrufen. Ein schwarzhaariger Lockenkopf mittleren Alters in Begleitung von zwei Mittzwanzigern fragt: »Achim?« - »Ja.« - »Tommy. Und das sind Milan und Shenya.« Händeschütteln, Lächeln, und auf geht s durch die kathedralenartige Eingangshalle, per Rolltreppe hinauf, dann wieder zum Bahnsteig hinunter. Dort warten bereits viele Uniformierte auf den Zug nach Kostjantynowka - das ist jetzt die Endstation. Vor dem Krieg ging es bis nach Donezk, aber die Donbass-Metropole ist russisch besetzt. Dazwischen liegt die Front. Im Flieger nach Kiew las ich in einem Bericht der Vereinten Nationen, dass an dieser Front seit April 2014 bereits 9400 Menschen ums Leben gekommen und etwa 21 500 verletzt worden seien. 6

Am Zugfenster sieht man die Vororte der ukrainischen Hauptstadt vorbeiziehen. Der majestätische Dnjepr umströmt seine Flussinseln. Golden funkeln die Kirchtürme im terrassenförmigen Grün des Hochufers. Hochhauskomplexe wie Gebirge, Wald, Ortschaften. Es ist wie eine Zeitreise. Man schaut im Vorbeifahren auf Dörfer wie aus einer vergangenen Epoche. Neu sind Graffiti, die aber weniger werden, je mehr man sich von der Dnjepr-Metropole entfernt. Immer wieder geraten noch im Bau befindliche, neu errichtete oder soeben sanierte orthodoxe Kirchen mit goldenen Kuppeln in den Blick, Zwiebeltürme, blaue Dächer. Draußen kehrt eine Frau mit dem Holzbesen, auf den Monitoren im Zug wirbt man für automatische Staubsauger.

Surrend öffnet sich die automatische Tür, Servicepersonal schiebt einen Wagen mit Kaffee und Tee, Cola und Wasser, Sandwiches und Süßigkeiten herein. Sanft puffend schließt die Tür wieder. Einige wenden die Köpfe von den Smartphones und Tablets, die mit dem kostenlosen WLAN der Bahn verbunden sind. Was sie kaufen, können sie auch mit ihrer Kreditkarte bezahlen. Durch das Fenster sehe ich, dass wir einen weiteren noch manuell betriebenen Bahnübergang passieren, und verwitterte Häuser entlang einer kopfsteingepflasterten Straße. Wäre da nicht die Satellitenschüssel an einem der Gebäude, könnte man hier einen Film drehen, der in den 1950er Jahren spielt.

Der Zug wirkt wie eine Lokomotive des Fortschritts. In dem dünn besiedelten Land scheint die Zeit still zu stehen. Es gibt nur Einsprengsel von Neuem. Neben einem Auto aus sowjetischen Zeiten steht ein Gebrauchtwagen mit deutscher Werbung aus den 1990er Jahren. In den großen Städten allerdings sah ich etliche neue Limousinen und Vans. »Sie sind wichtiger als die Wohnung«, meint Tommy, dessen sarkastisch-lebenskluger Witz mir gefällt. »Es gibt Familien, da sind neue Reifen wichtiger als neue Schuhe für die Kinder.«

Tommy kennt die Krisengebiete dieser Welt. Als wir uns verabredeten, saß er im Dauerregen Myanmars. Mit den Philippinen verhandelt er gerade, weil eine Hilfslieferung widerrechtlich verzollt und versteuert werden soll. Da keiner vor den Wahlen etwas entscheiden will, droht das Holz zum Häuserbau zu verfaulen.

»Meine Gesprächspartner in Kiew sagten mir«, lenke ich das Gespräch auf die Ukraine, »dass eine Justizreform überfällig sei. Könnte so etwas auch hier geschehen?«

»Bislang ging alles gut. Aber man weiß nie ⦠Jedes Gesetz wird durch folgende ergänzt. Das Gesetzeswerk ist wie ein vielfach leck geschlagenes und notdürftig repariertes Boot. Eine Kollegin sagte mir, es wäre besser, alles neu zu schreiben. Momentan werden mehr Rechtsanwälte als Ingenieure ausgebildet.«

Wir tauschen unsere Erfahrungen auf Reisen aus. Ich berichte Tommy von Transnistrien, das sich von Moldawien abspaltete, er mir von Südossetien, wo er in bestimmte Gebiete nicht durfte. »Da kamen nicht mal Baptisten hin - und die kommen nun fast überall hin.« Beide Gebiete entstanden an Bruchlinien europäischer Grenzregionen und könnten ohne russische Unterstützung nicht existieren; beide gehören zu Pufferzonen Russlands, sind Enklaven, die die Hoffnung auf die Wiedergeburt eines russischen Imperiums nähren.

Beide waren wir in der Südosttürkei - ich schrieb über die Region, er kümmerte sich um die Flüchtlinge. »Sie müssen dort eine Weile leben. Deshalb probierten wir ein System aus, nach dem sie nicht einfach rationiert Lebensmittel und Sanitärartikel bekommen, was in Katastrophengebieten unerlässlich ist, sondern selbst einkaufen können, anfangs einmal, nun zweimal im Monat. Das gibt ihnen mehr Selbstwertgefühl.«

Draußen ziehen großflächige Felder vorbei, auf denen noch mit der Sense gemäht wird, und Gehöfte mit wenigen Kühen, dann kilometerweit Kiefern- und Birkenwälder, die übergehen in eine Steppe mit wenigen Bäumen.

»Mensch, ist das Land dünn besiedelt!«, staune ich.

»Hier hat sich einer aus dem deutschen Zweig meiner Familie nach der Kriegsgefangenschaft durchgeschlagen«, sagt Tommy, »bis Odessa und dann mit einem Schiff weiter. Eine russische Krankenschwester hat sich in ihn verliebt und irgendwie die Entlassungspapiere beschafft.«

»Hat er sie wiedergesehen?«

»Nein. Aber ab und zu hat er vom Krieg erzählt. Von den Gräueln auf beiden Seiten.«

»Was konkret?«

»So wurde etwa ein Gefangener nicht erschossen, sondern einer schlug ihm mit dem Hammer eine Patrone in den Schädel.«

In Bulgakows Weißer Garde las ich: »Wird jemand je für das Blut bezahlen? Nein. Niemand. Nur der Schnee wird tauen, ein grünes ukrainisches Gras wird sprießen, die Erde umflechten ⦠und prächtiges Korn wird aufgehen ⦠die Schwüle wird über dem Ackerland zittern, und es bleibt vom Blut keine Spur zurück. Das Blut ist wohlfeil auf den güldenen Feldern, wer sollte es kaufen, wer kauft es frei? Keiner.« 7

Tommys Leben ist ein globales: Sein Vater ist Franzose mit algerischen Wurzeln, seine Mutter Deutsche. Aufgewachsen ist er in Dänemark. Rund dreihundert Tage im Jahr ist er in den Krisengebieten der Welt unterwegs. Zu Hause ist er an der kroatischen Küste, unweit des reizvollen Neretva-Deltas. »Im Urlaub fahre ich nie weg, sondern bin dort.«

Vor dem Zugfenster wechseln sich Tannenwälder in langem Nadelkleid mit Kiefern ab, die Stamm zeigen. Altersschwache Dörfer kommen ins Bild, rostige Züge, nur noch notdürftig betriebene Anlagen. Wer von den mit Latten umzäunten Katen in die Schluchten der großen Städte zieht, absolviert eine Zeitreise, macht einen Jahrhundertschritt. Manche werden Heimweh nach der Vergangenheit haben, in die sie mit einem Zugticket zurückreisen können.

Milan, einer der Hauptorganisatoren der Hilfstransporte vor Ort, dreht sich um und meint, dass wir uns der Front nähern. Tommy sucht vor unserer Ankunft nach neuen Nachrichten über die Gefahren in dem Krisengebiet, auf das wir uns zubewegen, und nach Empfehlungen. Er ist einer der wenigen, die Zugang zu einem Internetforum von Experten haben.

Der Zug fährt in Slowjansk ein. Am Bahnhofsgebäude prangt die Jahreszahl 1952, da wurde es eingeweiht, und 2014, da wurde es nach schweren Kämpfen wieder aufgebaut. Einige Gestänge auf einer Hügelkette in blauer Ferne sollen Überreste des Fernsehturms sein, der bei den Gefechten zerstört wurde. Auf den Zugmonitoren laufen Spots mit Muskelkerlen, die auf Motorbikes über schmale Brückenbögen rasen, hoch und hinunter, unter ihnen der klaffende Abgrund. Ein Fehler bedeutet unweigerlich Absturz. Draußen sieht man nun mehr Büsche als Bäume, Seen, Flüsschen, Feuchtgebiete. Der letzte Halt wird angesagt: Kostjantynowka.

Selbst nach mehreren Stunden Fahrt wirkt die Landschaft nicht langweilig, eher wie die Komposition eines minimalistischen Meisters. Es gibt nur wenige Elemente: Wald, Hügel, Wiesen, Felder. Immer, wenn es eintönig zu werden droht, strukturieren ein See, ein Dorf, ein Flüsschen die Landschaft. Ich begreife, warum nicht alle die Wurzel des Landesnamen Ukraine auf die Bedeutung Grenzland zurückführen wollen, sondern eher auf die Schönheit der Landschaft. Wer aus dem Osten kam,...
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Autor

Achim Engelberg, geboren 1965, schreibt u.a. für die Neue Zürcher Zeitung, die Blätter für deutsche und internationale Politik und Sinn und Form. Er ist Gründungskurator bei piqd. Als Historiker publiziert er Sachbücher und wertet den in der Berliner Staatsbibliothek vorliegenden Nachlass seines Vaters aus. Bei Siedler erschienen »Die Bismarcks. Eine preußische Familiensaga vom Mittelalter bis heute« (2010, zusammen mit Ernst Engelberg) und die von ihm herausgegebene Neuedition von Ernst Engelbergs »Bismarck. Sturm über Europa« (2014).