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Fremdes Licht

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
512 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am09.03.2020
Sie ist an einem unbekannten Ort und in einer eisigen, unwirtlichen Umgebung. Erst nach und nach kehrt die Erinnerung zurück, und Elaine begreift, was passiert ist: dass ihr Großvater einst bei den Inuit in Grönland lebte und er sie mit dem Überleben in Eis und Schnee vertraut machte. Dass sie zuletzt für einen Konzern im Schweizer Ort Winterthur tätig war und sich dort als Genforscherin mit der Rekonstruktion von Leben beschäftigte. Dass die Erde während eines Kometeneinschlages zugrunde ging und sie die letzte Überlebende zu sein scheint. Was das alles mit ihrer Urgroßmutter aus Grönland zu tun hat, ahnt sie nicht.

Michael Stavari? wurde 1972 in Brno (Tschechoslowakei) geboren. Er lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in Wien. Studierte an der Universität Wien Bohemistik und Publizistik/Kommunikationswissenschaften. Über 10 Jahre lang tätig an der Sportuniversität Wien - als Lehrbeauftragter fürs Inline-Skating. Zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, zuletzt: Wissenschaftsbuch des Jahres, Adelbert-Chamisso-Preis, Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextSie ist an einem unbekannten Ort und in einer eisigen, unwirtlichen Umgebung. Erst nach und nach kehrt die Erinnerung zurück, und Elaine begreift, was passiert ist: dass ihr Großvater einst bei den Inuit in Grönland lebte und er sie mit dem Überleben in Eis und Schnee vertraut machte. Dass sie zuletzt für einen Konzern im Schweizer Ort Winterthur tätig war und sich dort als Genforscherin mit der Rekonstruktion von Leben beschäftigte. Dass die Erde während eines Kometeneinschlages zugrunde ging und sie die letzte Überlebende zu sein scheint. Was das alles mit ihrer Urgroßmutter aus Grönland zu tun hat, ahnt sie nicht.

Michael Stavari? wurde 1972 in Brno (Tschechoslowakei) geboren. Er lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in Wien. Studierte an der Universität Wien Bohemistik und Publizistik/Kommunikationswissenschaften. Über 10 Jahre lang tätig an der Sportuniversität Wien - als Lehrbeauftragter fürs Inline-Skating. Zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, zuletzt: Wissenschaftsbuch des Jahres, Adelbert-Chamisso-Preis, Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641208950
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2020
Erscheinungsdatum09.03.2020
Seiten512 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.4940422
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1.

ALLMÄHLICH BIN ICH KAUM MEHR in der Lage, die bittere Kälte zu ertragen.

Ich kann kaum die Augen öffnen, mich bewegen, geschweige fliehen, gar frei atmen, keine Ziele nirgendwo, überall Gedankenkreisel. Möge ich erfrieren, lasst mich endlich sein, innerlich verstarb ich oft genug, doch lässt der Tod weiter auf sich warten.

Ich will mich festhalten, fasse mehrmals nach dem Stiegengeländer, klamm sind die Hände, taub bis in die Fingerspitzen, der Frost und die Kälte lassen mich taumeln. Einst konnte es mir gar nicht kalt genug sein, ich tauchte selig ab, ließ mich fallen in jedwedes Eis, zwängte die Hände hinein, so tief es nur ging, wie in übergroße Backformen. Ich nahm gern ein Bad in kribbligem Schnee, der einem alles Blut aus den Fingern trieb, der dieses wie rote Eiswürfel in einem schmalen Glas zu stapeln schien, es fühlte sich ungemein lebendig an. Und später, wenn das Blut erneut in die Finger floss, wenn sich dieses wie ein Sturzbach innerhalb der Adern seinen Weg bahnte, wenn man die noch unterkühlten Hände an die halbwarmen Lippen hielt, sie mit etwas Atem anzuwärmen suchte, wenn man die Handflächen trotzig aneinanderrieb und diese wagemutig in den Nacken oder an den eigenen Hals legte, ließ mich all das erst frohlocken.

Die Kälte spornte den Körper an, aufzuwachen, sich zu bewegen, durch den Schnee zu laufen, lauthals und gellend zu schreien, sich in der Welt bemerkbar zu machen. Sie war wie ein Hund, dem ich nicht einmal einen Namen zu geben brauchte, lief mir treu hinterher, wir tollten gemeinsam durch eine verwunschene Winterlandschaft, das Bellen der Kälte war mein heiserer Atem, ihr zuliebe lief ich manchmal sogar auf allen vieren.

Nunmehr ertrage ich die Kälte nicht mehr, es ist undenkbar geworden, ohne Handschuhe und Wollmütze ins Freie zu gehen, meistens verkrieche ich mich und verlasse das Stiegenhaus nur noch dann, wenn es unvermeidbar ist. Vier, fünf Paar Socken streife ich mir über, Thermounterwäsche, zwei, drei Pullover, einen dicken Schal, doch friere ich dennoch, es existiert eine widernatürliche Kälte, die sich allmählich in meinem Körper breitmacht, die diesen unterwirft, meinen Kopf, meinen Rumpf und alle Gliedmaßen. Fast ist es so, als würde mir der Winter eine Kriegserklärung unterbreiten, das Leben versickert in tauben Fingerspitzen, kalten Unterarmen und eisigen Lippen, es ist mir vollkommen unmöglich geworden, mich aufzuwärmen, ganz egal, wie sehr ich auch die Hände balle oder wie nah ich an die mich umgebenden Wände rücke.

Ich schließe die Augen und verbringe gedanklich ein paar Stunden in der Badewanne, versuche mir vorzustellen, ich wäre noch im Mutterleib, wo es auf immer wohlig warm bleibt. Ich aale mich im viel zu heißen Wasser, das meine Haut rötet und reizt, das zwar die obersten Hautschichten aufzutauen vermag, doch ist die Kälte nach wie vor in mir, als wäre ich irgendeine den Elementen und ihren Widrigkeiten ausgelieferte Erdschicht. Eine Art Permafrost hält mich an diesem Ort gefangen, meine Hautoberfläche wird bestenfalls matschig, wenn sie wärmer wird, allfällige Druckstellen halten sich darin eine ganze Woche. Doch unter dem Matsch, unter der in meinen Träumen vom heißen Wasser verbrühten Haut, liegt blankes Eis, ich bin wie eine gefrorene, von Eiskristallen in Schach gehaltene Erde, jener Staub, aus dem sich der Mensch einst erhob, der nunmehr verklumpt, versteinert und zu gar nichts mehr taugt.

Der weißgraue Himmel draußen vor dem Stiegenhaus und die angrenzenden Hügel bleiben ununterscheidbar, die darin gefangenen sogenannten Anzeichen von Zivilisation bestehen aus ein paar aufgeplatzten Modulen, diversen Verschlägen, fast schon Baracken, ein paar zugespitzten Metallarmen und allerlei Bruchwerk. Sechs oder sieben Masten, wohl eher verdrehte, in sich verschraubte Antennen und Auslegerreste, recken sich in die Höhe, alles ist restlos und unwiederbringlich eingeschneit, weithin in der Ebene verstreut. Wie ein unwirtlicher, in einer lebensfeindlichen Umgebung gelegener Ort, so fühlt es sich an, das Allein-Sein, wund und zusammengepfercht mit den eigenen Erinnerungen. Man müht sich weiter, versucht irgendwelchen Aufgaben und Ordern nachzukommen, ab und an erkenne ich einen milchig-hellen Fleck am Himmel, es muss die Sonne sein, irgendein mir längst fremd gewordener Himmelskörper, doch ist es nicht weiter wichtig, sie strahlt keinerlei Wärme ab, davor ist immerzu Winter.

Wenn ich durch das Stiegenhaus gehe und vor die Türe trete, fühle ich mich immerzu am Abgrund, ich blicke in einen Eiskrater hinab, aus dem sich vereistes Metall schält, Luken und Lüftungsschlitze sind zu erkennen, alles wölbt und verschränkt sich, franst zugleich aus. Die Zivilisation, ganz egal, wie hoch entwickelt sie einst gewesen sein mag, sie scheint nur noch ein ausgeschlachtetes Wrack zu sein, irgendein verloren gegangenes Ding in dieser bedrohlichen Landschaft.

Meistens bin ich wie gelähmt, das Stiegenhaus liegt still und verloren da, ich strauchele, ziehe die Hände zurück, das eiskalte Metall des Geländers bleibt an meiner Haut haften, es scheint mich festsetzen zu wollen. Alles friert mittlerweile an mir fest, selbst Metallsplitter und Verstrebungen, die dann von sich aus immer weiter in den Raum wachsen. Bloß nicht zur Gänze daran festkleben, denke ich mir noch, einen Schritt nach dem anderen, auch wenn du es eigentlich besser weißt.

Das Stiegenhaus ist ein bläulich schimmernder Hohlraum, ich orientiere mich an dem fahlen, sich nicht weiter bemühenden Licht und taumele auf die hellste Stelle zu, selbst eine unförmig gewordene Silhouette, die sich nur zögerlich ins Freie wagt. Ich kann spüren, wie all meine Zellen verharren, sie scheinen plötzlich nur noch aneinandergereihte, in sich kollidierende Schneebälle zu sein, die von immer weiteren Eiskristallen befallen werden. Ihre rundliche, nach wie vor tröstliche Form löst sich endgültig auf, das verklumpte Eis ist schlussendlich überall, die Kälte überwindet alle Wälle und jede noch so gut konstruierte Zellwand, sie zieht ein, wohin sie will, und lässt mich erschaudern.

Eine Weile stelle ich mir vor, draußen sei Sommer, ganz egal, wie abwegig das sein mag, ich versuche Frost und Kälte, die meinen Körper umklammert halten, auszublenden. Ich spreche mir trotzig Mut zu, der Geist ist schließlich frei, und ich kann mir ausmalen, was immer ich will, vollkommen egal, wie die Realität auch beschaffen ist. Demnach gehe ich ein wenig spazieren, suche etwas Auslauf für die steifen Glieder, dick eingemummt stolpere ich durch die Ebene, sinke in den Schnee und denke beharrlich daran, dass Sommer sei, dass ich weiches Moos unter den Füßen habe, irgendeine von Gräsern und Kräutern überwucherte Wiese. Ich stapfe gedanklich durch schimmernden Sand, wate durch flüssiges Wasser, allein die Füße fühlen sich an, als gehörten sie jemand anderen. Bestimmt würden sich alle gehörig wundern, was mit mir los sei, mitten im Sommer in Daunenjacken, ja Thermoanzüge gewickelt, mit Handschuhen und Pelzkragen, ach, die Dame sei gewiss exzentrisch, wäre noch eine der höflicheren Formulierungen.

Die Menschen, die ich in der weißen Einöde zu erkennen glaube, tragen T-Shirts und kurze Hosen, die Frauen führen ihre Sommerkleider aus, unvorstellbar, wie warm ihnen sein muss. Sie werfen mir befremdliche Blicke zu, vielleicht halten sie mich für einen der Obdachlosen, die sich im Sommer in dicke Schichten hüllen; wer im Freien lebt, hat eine gänzlich andere Einstellung zu den Jahreszeiten. Jemand wirft mir plötzlich einen Ball zu, irgendein Kind, das in seiner eigenen, noch unverfälschten Welt lebt; einen Moment lang scheine ich nicht mehr befremdlich und verwahrlost. Ich versuche diesen aufzufangen, doch wie soll das schon gehen, wie kann ich noch Wunder vollbringen, mit diesen verfrorenen, mir nur gelegentlich gehorchenden Händen. Der Ball trifft meine Brust und prallt ab, er rollt und hüpft von dannen, das Kind läuft ihm verwundert hinterher, ganz offensichtlich bin ich keine geeignete Spielkameradin.

Augenblicklich verliere ich die Fassung, die sommerliche Umgebung löst sich im Nichts auf, sie verschwindet, und eine Windböe erfasst mich unversehens, der Winter hat sie mir nachgeworfen, um mich endgültig von den Beinen zu holen. Sollte ich heute fallen, würde ich nicht mehr die Kraft aufbringen, erneut aufzustehen, mich zurück zum Stiegenhaus zu schleppen, um mich in einem der Winkel zu verkriechen.

Ich blicke zum Himmel, einen Moment lang scheint dieser strahlend blau, im nächsten erneut weißgrau und fahl, Schneeflocken und Kälte rieseln herab, woraufhin ein paar Vögel durchs Bild zischen, ein paar Federn torkeln zu Boden, bestimmt brechen sie auf in den Süden. Ich schüttele heftig den Kopf, der blaue Sommerhimmel und die weithin sichtbaren, piepsenden Vögel werden erneut vom Winter weggewischt, der Schnee fällt nun noch dichter, als hätte jemand die Flocken fein säuberlich an langen Schnüren aufgefädelt, diese zunächst abermilliardenfach irgendwo am Himmel festgebunden und nunmehr mit glatten Schnitten alle Verbindungen gekappt. Die Schnüre rasen daraufhin unverzüglich auf den Boden zu, und dort, wo sie auftreffen, türmen sie sich in Windeseile auf, Seile und Netze und Sorgen aus Schnee. Fast scheint es, als wäre der Winter ein gewaltiges Schiff, die Matrosen sind damit beschäftigt, überall und endgültig Anker zu setzen, sie werfen eine Ankerkette nach der anderen über Bord, die Kettenglieder fallen nach unten, auf mich zu, der Winter wird sich wohl noch tiefer und unwiederbringlicher in die Erde bohren.

Insgeheim bekrittele ich, dass ich am bleichen Himmel noch kein Nordlicht...

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Autor

Michael Stavaric wurde 1972 in Brno (Tschechoslowakei) geboren. Er lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in Wien. Studierte an der Universität Wien Bohemistik und Publizistik/Kommunikationswissenschaften. Über 10 Jahre lang tätig an der Sportuniversität Wien - als Lehrbeauftragter fürs Inline-Skating. Zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, zuletzt: Wissenschaftsbuch des Jahres, Adelbert-Chamisso-Preis, Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur.