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Tochter des Marschlands

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
464 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am01.05.2023
Was geschah in jenem schicksalhaften Sommer auf dem Wasser?
Loni Mae Murrow liebt ihr geordnetes Leben in Washington, D.C., wo sie ihr Talent zum Beruf gemacht hat: Für ein Naturkundemuseum fertigt sie naturgetreue Zeichnungen von Vögeln an. Als ihre Mutter Ruth erkrankt, folgt sie nur widerwillig der Bitte ihres Bruders, in die Kleinstadt ihrer Kindheit im Marschland Floridas zu kommen. Denn inmitten der unberührten Landschaft lauern die Erinnerungen an Ruths Gefühlskälte und an den tragischen Tod ihres Vaters Boyd als Loni zwölf Jahre alt war. Dann findet sie einen Hinweis, der Boyds Bootsunfall in einem neuen Licht erscheinen lässt. Sie macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. Und nach dem, was Familie, Liebe und Heimat für sie bedeuten.

Virginia Hartman unterrichtet Creative Writing an der George Washington University in Washington, D.C. Ihre Erzählungen, in denen das Verhältnis des Menschen zur Natur eine tragende Rolle spielt, wurden für diverse Preise nominiert. »Tochter des Marschlands« ist ihr erster Roman.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR13,00
HörbuchCD-ROM
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR16,99

Produkt

KlappentextWas geschah in jenem schicksalhaften Sommer auf dem Wasser?
Loni Mae Murrow liebt ihr geordnetes Leben in Washington, D.C., wo sie ihr Talent zum Beruf gemacht hat: Für ein Naturkundemuseum fertigt sie naturgetreue Zeichnungen von Vögeln an. Als ihre Mutter Ruth erkrankt, folgt sie nur widerwillig der Bitte ihres Bruders, in die Kleinstadt ihrer Kindheit im Marschland Floridas zu kommen. Denn inmitten der unberührten Landschaft lauern die Erinnerungen an Ruths Gefühlskälte und an den tragischen Tod ihres Vaters Boyd als Loni zwölf Jahre alt war. Dann findet sie einen Hinweis, der Boyds Bootsunfall in einem neuen Licht erscheinen lässt. Sie macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. Und nach dem, was Familie, Liebe und Heimat für sie bedeuten.

Virginia Hartman unterrichtet Creative Writing an der George Washington University in Washington, D.C. Ihre Erzählungen, in denen das Verhältnis des Menschen zur Natur eine tragende Rolle spielt, wurden für diverse Preise nominiert. »Tochter des Marschlands« ist ihr erster Roman.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641295790
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2023
Erscheinungsdatum01.05.2023
Seiten464 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.10228779
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


2

Ein Körper von knapp siebzig Kilo, der aus einer Höhe von etwas mehr als einem halben Meter in tiefes Wasser stürzt, wird, wenn er mit zusätzlichen sieben bis zehn Kilo an, sagen wir mal, Bleigewichten beschwert ist, mit einer Geschwindigkeit von etwa dreißig Zentimetern pro Sekunde sinken. Wenn die Person es bereut, die Gewichte eingesteckt zu haben, wird sie vielleicht um sich schlagen und kämpfen, wenn nicht, dann wird sie sich ohne Gegenwehr sinken lassen, bis Dunkelheit und Kälte die Oberhand gewinnen, bis sie ihren Atem nicht mehr anhalten kann, bis ihr Gewicht, die Dunkelheit und die Distanz zur Oberfläche jeden Gedanken des Bedauerns sinnlos machen. An diesem Punkt wird die Sinkgeschwindigkeit irrelevant, und kleine Fische beginnen sich zu nähern und zu knabbern.

In dem gläsernen Becken vor mir befindet sich eine winzige Taucherfigur, aus der Luft herausblubbert, kleine Fische schwimmen um sie herum, und das alles sorgt dafür, dass ich dem National Aquarium ganz bestimmt nie wieder einen Besuch abstatten werde, egal wie nah es an meiner Arbeitsstelle liegt. Mein Blick wandert von dem Taucher zu jemandem hinter mir, einer dunkelhaarigen jungen Frau, die sich in der Scheibe spiegelt. Ich drehe mich um, aber da ist niemand. Ich schaue wieder nach vorn und sehe, dass es mein eigenes Spiegelbild ist, mein erwachsenes Ich, für eine Sekunde nicht zu erkennen für das kleine Mädchen, dessen Ängste die Angewohnheit haben, von der Erwachsenen Besitz zu ergreifen.

Wer hätte gedacht, dass diese sieben oder acht auf Augenhöhe in die Wand eingelassenen Becken in einer Lobby des Commerce Building mich so verunsichern können? Egal wie sehr sie mich darum bitten, die Ichthyologen werden sich eine andere Zeichnerin für ihre Fische suchen müssen. Ich bleibe den Vögeln treu, von jetzt an bis in die gottverdammte Ewigkeit.

Ich lege die zwei Blocks zum Museum of Natural History in flottem Tempo zurück, unbeeindruckt von einem kräftigen Kerl in dunklem Anzug, der versucht, sich mir in den Weg zu stellen, und mir ein »Hey, Schatz, wozu die Eile?« entgegenraunt. Endlich betrete ich meine Zufluchtsstätte mit dem glanzvollen Foyer. Das Museum für Naturgeschichte ist Teil der Smithsonian Institution, eines weltberühmten Museen- und Forschungsverbunds in Washington, D.C. Die öffentlich zugänglichen Räume des Museums zählen nicht zu meinen Lieblingsorten, dort herrscht zu viel Trubel wegen der vielen Touristen, Schulklassen und hungrigen Horden. Ihre Neugierde ist liebenswert - sie sind die wahren Naturkunde-Enthusiasten. Ringsum spiegeln sich im Marmor die architektonischen Details und wertvollen Objekte. Wenn ich aber einen meiner neblig-grauen Tage habe, dann kommt mir beim Betreten des Gebäudes nur der Tod in den Sinn: all die Präparate, Tausende von Kadavern aller Spezies, ausgestopft oder auf andere Weise dem Vergessen entrissen, damit wir über sie Bescheid wissen, und dennoch - alle tot. Die Vögel, die ich zeichne und male - alle tot. An solchen Tagen überlebe ich, indem ich mir vorstelle wie jeder einzelne aufgespießte Schmetterling losflattert, jedes einzelne ausgestopfte Beuteltier aufwacht, jedes einzelne konservierte Pflanzenexemplar erblüht und den Marmorboden wie einen Wald im Zeitraffer bedeckt, und wie jeder einzelne Vogel zum Leben erwacht, zur Kuppel aufsteigt und davonfliegt. An den Tagen, an denen der Nebel aufzieht und von mir Besitz ergreift, sind diese Visionen meine einzige Rettung.

Die beständigere, zuverlässigere Erlösung liegt natürlich in meiner Arbeit. Ich kann mich zum Beispiel stundenlang darin vertiefen, einen Eistaucher zu zeichnen, mit seinem tiefschwarzen Kopf, der weißen Bänderung am Hals und der Verflechtung von Punkten und gebrochenen Rechtecken, die sich über die Flügel ziehen. Mit der gebührenden Präzision gelingt es mir, die tote Haut eines Vogels lebensecht nachzubilden.

Vom Foyer aus gelange ich in die düsteren hinteren Gänge und steige zu meinem Atelier hinauf, einem lichtdurchfluteten Büro mit einem alten Metallschreibtisch, den ich in eine Ecke neben meinen Zeichentisch geschoben habe. In schmalen Wandregalen liegt nach Gewicht sortiertes Zeichenpapier neben weichen Bleistiften, die nach den unterschiedlichen Härtegraden der Minen geordnet sind. Ich habe die dunklen Fläschchen von Rapid Draw neben eine wahnsinnig umfangreiche Ansammlung von Schreibfedern aufgereiht und direkt im Anschluss daran meine Farbtuben in der Farbfolge eines Regenbogens - ROGGBIV - angeordnet, mit allen Abstufungen dazwischen.

Ich sitze am Zeichentisch und überblicke von dort die National Mall, diese weitläufige gradlinige Parkfläche, die von Museen und Denkmälern flankiert wird. Neun Jahre hat es gedauert, bis ich ein Büro mit Blick auf diese Amerikanischen Ulmen, deren erste, zarte Knospen im März sprießen werden, und auf das Smithsonian Castle - die sogenannte Burg - bekommen habe. Doch ich musste nur einen einzigen Tag in diesem Museum arbeiten, um mir ganz sicher zu sein, dass ich hier mein Zuhause gefunden hatte. Gestern war mein sechsunddreißigster Geburtstag, und meine Kollegen und Kolleginnen haben für mich gesungen und darauf bestanden, dass ich die Kerzen auf einem kleinen Kuchen ausblase. Sie wissen nicht, dass ich jetzt in das Alter komme, in dem mein Vater gestorben ist. Er wurde nur siebenunddreißig Jahre alt.

Ich greife nach einem Pinsel. Auf dem schräg gestellten Zeichentisch liegt heute ein halb fertiger Vanellus chilensis, ein Bronzekiebitz, dessen schwarzer Schopf vom Kopf absteht. Ich verfeinere den Bronzeglanz auf den oberen Flügeln und fülle das Grau, Schwarz und Weiß des Gesichts aus. Für den Schnabel benötige ich Größe 0, also wähle ich einen von den noch sauberen, trockenen Pinseln aus, die mit ihren perfekt ausgerichteten Borsten und Haaren einsatzbereit vor mir liegen.

Ich bearbeite gerade die Spitze des Schnabels, als das Telefon klingelt. Ich lege den Pinsel beiseite.

»Loni, ich bin s, Phil.«

Für eine Millisekunde denke ich, dass mein Bruder sich an meinen Geburtstag erinnert hat.

Dann komme ich wieder zur Besinnung. »Phil, ist etwas passiert?«

»Mom ist hingefallen. Du musst herkommen.« Er hält inne. »Und â¦ du solltest einen längeren Aufenthalt einplanen.« Sie habe sich bei dem Sturz das Handgelenk gebrochen, erzählt er mir, aber das sei nicht das Hauptproblem. »Sie verhält sich schon länger seltsam, Loni. Ihr Gedächtnis â¦«

»Ach was, in diesem Alter vergisst man Dinge«, unterbreche ich ihn. Bei meinem Besuch im letzten Jahr war ihre Unbeherrschtheit mir gegenüber tatsächlich auffällig, aber ich habe das nur als graduelle Verschlechterung ihres normalen Verhaltens empfunden.

»Tammy glaubt, dass es so was wie eine frühe Form ist.«

Meine Mutter ist erst zweiundsechzig, und Phils Frau Tammy ist keine Allgemeinärztin oder Neurologin. Ich will nicht, dass meine Schwägerin irgendwelche Diagnosen stellt. »Na gut. Ich werde sehen, ob ich ein paar Tage freibekommen kann.«

»Nein, hör zu, Loni. Nimm dir bitte mehr Zeit. Es ist wirklich wichtig. Und wir brauchen dich hier.«

Er bittet so selten um etwas. Gerade ist aber nicht der ideale Zeitpunkt, um bei der Arbeit zu fehlen. Die neue Verwaltung hat einen Kader von Nichtnaturwissenschaftlern in Stellung gebracht - fast alle kaum älter als fünfundzwanzig mit einem Abschluss in BWL -, um den Effizienzquotienten des Smithsonian zu überprüfen. Ich würde sie als frische, unverbrauchte Gesichter bezeichnen, wenn sie nicht so herrisch und schlecht gelaunt auftreten und ihre Unerfahrenheit mit einer eisernen Autorität kaschieren würden, die man ihnen verliehen hat, damit sie unsere Chefs herumkommandieren. Angesichts ihrer jugendlichen Frische könnte ich sogar nachsichtig sein, wenn sie nicht so fest entschlossen wären, gute Leute loszuwerden.

Hugh Adamson ist das jüngste Exemplar dieser Gruppe von Sparkommissaren und für die Ornithologen zuständig. Letzten Montag versammelte er die Belegschaft, um ihr die Begriffe gesundschrumpfen und konsolidieren um die Ohren zu hauen. »Wir werden Frühpensionierungen fördern«, sagte er. »Wir werden diejenigen, die kündigen, nicht ersetzen, und wir werden alle Verstöße gegen die Urlaubsregelungen strengstens ahnden.«

Unsere Kleiderordnung im Büro ist ziemlich locker, aber Hugh trägt jeden Tag einen Anzug. Diese Kostümierung scheint neu für ihn zu sein, die Hose spannt an den Oberschenkeln, das perfekt gestärkte Hemd schnürt seinen Hals ein. »Gesundschrumpfen durch Fluktuation«, sagte er und zwängte einen Zeigefinger zwischen Kragen und Haut, »da ist nichts Unmoralisches dran.«

Ich warf rasch einen Blick auf meinen Chef Theo, dessen alterndes, schnauzbärtiges Gesicht völlig unbeweglich blieb. Bundesangestellte lassen sich besonders schwer vertreiben, aber wie es aussieht, werden diese neuen Bürokraten einen Weg finden. Was Hugh und seine Kollegen nicht verstehen, ist, dass strenge Blicke in unserer Branche niemanden motivieren. Die gesamte Smithsonian Institution lebt vom offenen Austausch und dem kreativen Miteinander, beides Voraussetzungen für bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse. Den Leuten hier bedeutet ihre Arbeit alles. Aber diese jungen Männer - und es sind durchweg junge, weiße Männer - sind blind für alles außerhalb ihrer eigenen Agenda. Und die lautet im Moment: Konformität. Dass ich für längere Zeit nach Nordflorida reisen muss, wird nicht in ihr Konzept passen.

Ich gehe den Flur hinunter, um mir bei der Botanik-Bibliothekarin Delores Constantine...

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Virginia Hartman unterrichtet Creative Writing an der George Washington University in Washington, D.C. Ihre Erzählungen, in denen das Verhältnis des Menschen zur Natur eine tragende Rolle spielt, wurden für diverse Preise nominiert. »Tochter des Marschlands« ist ihr erster Roman.