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Francis

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
192 Seiten
Deutsch
Ullstein Taschenbuchvlg.erschienen am18.10.20211. Auflage
'Elegant, wichtig, fulminant - das bewegendste Buch des Jahres.' The Guardian Francis und Michael sind Brüder. Sie werden in einem heruntergekommen Viertel am Stadtrand Torontos groß. Francis passt auf den jüngeren Michael auf, doch er kann ihn vor einem Messer, nicht aber vor den Vorurteilen beschützen, denen sie als junge schwarze Männer ausgesetzt sind. Die Realität freilich ist eine andere. Während Michael schüchtern erste Liebeserfahrungen macht, verfolgt Francis zusammen mit Freunden den Traum, im Hip-Hop-Business groß rauszukommen. Nach einem Konzert steht eines Nachts die Polizei im Desirea, dem Treffpunkt der Clique. Das passiert nicht zum ersten Mal. Aber diesmal eskaliert die Situation, es fallen Schüsse und den Schüssen nicht nur die Träume der jungen Menschen zum Opfer. Francis ist verstörend in seiner Zärtlichkeit, berührend trotz seiner Härte und ein eindringlicher Appell an unsere Humanität. 'Chariandy erzählt von sozialer Segregation, von Wut und von tiefstem Verlust. Und trotzdem ist es die Zärtlichkeiten seiner Figuren, die uns beim Lesen den größten Schmerz bereitet. Das ist ganz großes Handwerk.' Shida Bazyar 

David Chariandy, Jahrgang 1969, wuchs in Toronto auf, heute lebt und unterrichtet er in Vancouver. Sein erster Roman, 'Soucouyant', erhielt zahlreiche begeisterte Besprechungen und nicht weniger als elf Nominierungen für Literaturpreise. 'Francis' ist sein zweiter Roman, der international hymnisch besprochen wurde, ebenso wie der bewegende Brief an seine Tochter 'Was ich dir erzählen wollte'.
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Produkt

Klappentext'Elegant, wichtig, fulminant - das bewegendste Buch des Jahres.' The Guardian Francis und Michael sind Brüder. Sie werden in einem heruntergekommen Viertel am Stadtrand Torontos groß. Francis passt auf den jüngeren Michael auf, doch er kann ihn vor einem Messer, nicht aber vor den Vorurteilen beschützen, denen sie als junge schwarze Männer ausgesetzt sind. Die Realität freilich ist eine andere. Während Michael schüchtern erste Liebeserfahrungen macht, verfolgt Francis zusammen mit Freunden den Traum, im Hip-Hop-Business groß rauszukommen. Nach einem Konzert steht eines Nachts die Polizei im Desirea, dem Treffpunkt der Clique. Das passiert nicht zum ersten Mal. Aber diesmal eskaliert die Situation, es fallen Schüsse und den Schüssen nicht nur die Träume der jungen Menschen zum Opfer. Francis ist verstörend in seiner Zärtlichkeit, berührend trotz seiner Härte und ein eindringlicher Appell an unsere Humanität. 'Chariandy erzählt von sozialer Segregation, von Wut und von tiefstem Verlust. Und trotzdem ist es die Zärtlichkeiten seiner Figuren, die uns beim Lesen den größten Schmerz bereitet. Das ist ganz großes Handwerk.' Shida Bazyar 

David Chariandy, Jahrgang 1969, wuchs in Toronto auf, heute lebt und unterrichtet er in Vancouver. Sein erster Roman, 'Soucouyant', erhielt zahlreiche begeisterte Besprechungen und nicht weniger als elf Nominierungen für Literaturpreise. 'Francis' ist sein zweiter Roman, der international hymnisch besprochen wurde, ebenso wie der bewegende Brief an seine Tochter 'Was ich dir erzählen wollte'.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783843723497
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum18.10.2021
Auflage1. Auflage
Seiten192 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.5725598
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

EINS

Sie ist zurückgekommen. Der Bus fährt los, und da steht sie, vor einem schmuddeligen Schneehaufen auf der anderen Seite der Avenue. Kein Nachbarsmädchen mehr, sondern eine junge Frau in hochhackigen Stiefeln und im Mantel, der Gürtel gestrafft gegen die Kälte und die Dunkelheit. Sie hat einen Rucksack, keinen Koffer, und erst so wird sie zu Aisha. Mit ihrer Art, wie sie sich das Ding ungeduldig über die Schulter wirft, bevor sie auf den Asphalt tritt und die salzfleckigen Fahrbahnen zwischen uns überquert.

»Du bist nicht gerade passend angezogen für das Wetter«, sagt sie.

»Schon okay. Musste ja nicht lange warten. Du siehst gut aus, Aisha.«

Sie runzelt die Stirn, lässt sich aber von mir umarmen, erst nach einer Weile lösen wir uns voneinander und laufen in östlicher Richtung los, das Kinn eingezogen vor dem Wind, der zwischen den hohen Wohnblöcken ringsum wie durch einen Tunnel pfeift. Im Licht eines entgegenkommenden Autos leuchtet Aishas Gesicht hell auf. Ja, sie sieht wirklich gut aus. Dieselbe dunkle Haut mit einem Stich ins Rote, dasselbe Haar, das sie früher als »Promenadenmischung« so gehasst hat. Aber das ist zehn Jahre her, seitdem haben wir uns nicht mehr gesehen. In der Stille, die sich schwer zwischen uns legt, fühlt es sich an, als würde noch die kleinste Unehrlichkeit diese erneute Verbindung zunichtemachen. Plötzlich schießt ein Lastwagen an uns vorbei und bespritzt unsere Schuhe und unsere Hosenbeine mit Schneematsch. Aisha flucht, doch als unsere Blicke sich treffen, zeigt sie ein kleines Lächeln.

»Ein echter Willkommensgruß«, sagt sie.

»Du siehst ein bisschen müde aus. Ich habe das Bett schon für dich zurechtgemacht.«

»Danke, Michael. Danke für das Angebot, bei euch zu übernachten. Tut mir leid, dass ich nicht früher angerufen habe. Mir steht der Kopf woanders in diesen Tagen. Und du kennst mich, ich habe noch nie gern um einen Gefallen gebeten.«

Sie war im Ausland gewesen, als sie die Nachricht erhielt, ihr Vater werde nun palliativmedizinisch betreut, und während sie mit mir telefonierte, beschrieb sie, wie in ihrem Kopf auf einmal Panik war, aber auch eine dumpfe Wut. In seinen sporadischen Briefen hatte er davon gesprochen, dass er sich müde fühle, nur den Krebs erwähnte er mit keinem Wort. Sie hatte eine Reihe von Anschlussflügen nach Toronto genommen und dann einen Greyhound zum Pflegeheim in Milton, der Kleinstadt, in die er vor Kurzem gezogen war. Die Woche bis zu seinem Tod war sie bei ihm geblieben, und sie hatten Zeit zum Reden, aber es war sowieso zu spät. »Was gab es da noch zu sagen?«, fragte sie mit harter Stimme am Telefon, gefolgt von einer Stille in der Leitung, die ich unmöglich ausfüllen konnte. Ihr Anruf kam aus dem Nichts. »Bitte komm«, sagte ich, und selbst als ich es wiederholte, war der Zweifel in meiner Stimme nicht zu überhören. »Komm nach Hause, in den Park.«

Der Park ist alles hier, alles um uns herum. Diese Zusammenballung von niedrigen Häusern und Reihenhäusern und schiefen Wohnsilos aus Beton, die heute Abend im verschwenderischen Licht einer Stadt vor einem mattlila Himmel aufragen. Wir nähern uns dem westlichen Ende der Lawrence Avenue Bridge, einem Ungetüm aus Stahlbeton, fast zweihundert Meter lang. Zig Meter unter der Brücke verläuft das Rouge Valley, schneidet sich einen Weg durch diesen Vorort, ohne etwas auf menschengemachte Raster zu geben. Aber das Tal ist für uns heute Abend nicht zu sehen, und kurz vor der Brücke kommen wir zum Waldorf, einer Reihenhaussiedlung aus bröckeligem rosa Backstein, die nordöstliche Ecke ist seit ewigen Zeiten mit flatternden blauen Planen verhängt. Das Haus, in dem Aisha vor zehn Jahren mit ihrem Vater gewohnt hat, liegt auf der besseren Seite des Blocks, auf der Südseite, dem Verkehr abgewandt. Dagegen geht die Seite, auf der ich mein ganzes Leben verbracht habe, zur stark befahrenen Straße hin, schutzlos dem Lärm der über den Asphalt zischenden Reifen ausgesetzt. Ich warne Aisha vor dem losen Beton an den Stufen, und als ich den Messingschlüssel ins Schloss stecken will, bin ich auf einmal die Unbeholfenheit in Person. Ich stoße die Tür auf, und unsere Blicke fallen in ein Wohnzimmer, das im flackernden Licht eines Fernsehers bläulich schimmert. Der Ton ist aus. Ein Sofa steht mit der Rückseite zu uns, darauf sitzt eine Frau mit ergrautem Haar, sie dreht sich nicht zu uns um.

Ich gebe Aisha zu verstehen, dass wir leise sein sollen, ziehe demonstrativ die Schuhe aus und gehe rasch mit ihr durchs Wohnzimmer. Die Frau auf dem Sofa blickt weiter auf den stummen Fernseher, die Pantomime einer Talkshow, ein prominenter Gast wirft lachend den Kopf zurück. Ich führe Aisha über einen kurzen Flur zum zweiten Schlafzimmer. Eine kleine Lampe wirft ihren Lichtkegel auf einen Schreibtisch, an der Seite ein Etagenbett mit Matratze und Bettzeug nur auf dem unteren Teil. Das obere Bett ist schon lange ausgeräumt, selbst die Matratze wurde entfernt, geblieben ist das Skelett der Holzlatten. Ich schließe die Tür hinter uns, und in dem plötzlich geschrumpften Zimmer setze ich zu einer Erklärung an. Wir schlafen natürlich nicht zusammen hier. Ich nehme das Sofa im Wohnzimmer, das ist recht bequem, doch, wirklich. Ich deute auf das Handtuch und die akkurat gefalteten zusätzlichen Decken auf der Matratze unten. Als ich sehe, wie Aisha vor sich hin starrt, halte ich inne. Sie hat nicht mal ihren Rucksack abgestellt.

»Spricht deine Mutter nicht mehr?«, fragt sie.

»Doch. Sie ist nur manchmal still, vor allem abends.«

»Tut mir leid«, sagt sie und schüttelt den Kopf. »Ich hätte nicht kommen sollen. Platze einfach bei euch rein.«

Schneematsch pladdert gegen das Fenster. Wieder ein Lastwagen, der zu nah am Bordstein entlanggefahren ist. Aber durch den plötzlichen Lärm erwacht etwas in mir, ein Gefühl der Beschämung vielleicht, weil ich dachte, ich könnte unser Gespräch heute Abend so beenden. Mit belanglosen Worten über Schlafmöglichkeiten und Handtücher. Mit ein paar freundlichen Worten über Aishas Vater, aber keinem einzigen über diesen anderen Verlust, der wie ein Schatten auf dem Zimmer liegt, so tief wie die zehn Jahre des Schweigens zwischen uns.

»Ich denke immer noch an Francis«, sagt sie.

Francis war mein älterer Bruder. Die toughsten Kids konnten sich damit brüsten, seinen Namen zu kennen, und wenn Eltern ihn aussprachen, dann als Warnung. Zuallererst aber war er diese Schulter, nackt und warm, die sich an mich drückte, dieser Körper, der nie weiter entfernt war als meine Haut.

Unsere Mutter stammte aus Trinidad. Oder von den Westindischen Inseln, wie Eltern ihrer Generation sagten. Francis und ich, beide in Kanada geboren und aufgewachsen, hatten Trinidad einmal besucht, daher erkannten wir in manchen Wörtern, Klängen und Speisen ihre Heimat wieder. Eine Heimat, die erklärte, warum es bei uns Getränke wie Mauby und Hibiskuslimonade gab oder das unbegreiflicherweise so genannte Peardrax, von dem Francis mir einmal weisgemacht hatte, es sei ein Kloputzmittel. Irgendwie dachten wir, die Westindischen Inseln wären auch der Grund für andere, nicht weniger seltsame Dinge bei uns zu Hause, die Schneekugel mit den Niagarafällen etwa oder, eine ständig lauernde Bedrohung, die 45er Single mit Anne Murrays Snowbird. Trinidad war der Ort, wo Verwandte wohnten, denen wir nur kurz begegnet waren und die jetzt auf alten Schwarz-Weiß-Fotos fortlebten, geisterhafte Bilder, die unsere Art zu lächeln erklären sollten, unsere Augen, unsere Haare, unser Knochengerüst.

Aber da war noch ein anderes altes Foto, Francis hatte es entdeckt, als wir noch klein waren, diskret aufbewahrt in Mutters Schlafzimmerschrank. Es war das Foto eines Mannes mit einem so gepflegten Schnurrbart, dass er wie aufgemalt aussah. Der Mann trug ein leichtes helles Jackett, der offene Hemdkragen ein Stück nach oben gebogen. Altmodische Wörter wie mondän und nonchalant kamen mir in den Sinn, zumindest tun sie das heute. Der Mann war unser Vater, er stammte ebenfalls von den Westindischen Inseln und lebte jetzt irgendwo in der Stadt, allerdings hatte er uns schon verlassen, als Francis drei war und ich gerade mal zwei. Das Foto war nicht besonders scharf, und ich weiß noch, wie Francis und ich es uns genau ansahen und in dem verschwommenen Gesicht des Mannes nach etwas Wiedererkennbarem suchten. Seine Haut war viel dunkler als die Haut unserer Mutter, aber man hatte uns gesagt, er sei nicht Schwarz wie sie, sondern etwas, was man »indisch« nannte - nur schien sich diese Herkunft verloren zu haben, in der dürftigen Bildqualität oder in der spachteldicken Schicht Pomade, die so künstlich aussah wie die aufsteckbare schwarze Frisur des Lego-Männchens.

In Wahrheit hatte keiner von uns, weder ich noch Francis, noch unsere Mutter, großes Interesse an der grauen Vergangenheit von Fotos. Im Hier und Jetzt hatten wir mehr als genug zu erkunden, und vor allem war da die ständige Herausforderung, nicht zu verpassen, was unsere Mutter eine »Chance« nannte. Sie arbeitete als Putzfrau in Bürogebäuden, Einkaufszentren und Krankenhäusern. Außerdem war sie eine dieser Schwarzen Mütter, die weder andere um Hilfe bitten noch Hilfe annehmen...
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Autor

David Chariandy, Jahrgang 1969, wuchs in Toronto auf, heute lebt und unterrichtet er in Vancouver. Sein erster Roman, "Soucouyant", erhielt zahlreiche begeisterte Besprechungen und nicht weniger als elf Nominierungen für Literaturpreise. "Francis" ist sein zweiter Roman, der international hymnisch besprochen wurde, ebenso wie der bewegende Brief an seine Tochter "Was ich dir erzählen wollte".